Gute Manager wissen, was sie an ihren Leistungsträgern haben. Aber wissen das auch die Leistungsträger? Wertschätzung für Mitarbeiter steht in wirtschaftlich schwierigen Zeiten meist nicht ganz oben auf der Agenda. Sollte sie aber. Denn gerade jetzt ist ein respektvoller, anerkennender Umgang mit der Belegschaft noch wichtiger als ohnehin schon. Warum das so ist und wie wertschätzende Führung gelingt, erklärt Robert-Half-Chef Sven Hennige im Interview.

Größeres Wertebewusstsein erfordert mehr Wertschätzung

Wenn die Zeiten schwierig sind und es in erster Linie um das wirtschaftliche Überleben geht, ist die Stimmung bei der Belegschaft erst einmal von untergeordneter Bedeutung. So sehen es zumindest viele Führungskräfte. Der Gedanke ist nachvollziehbar – aber zu kurz gedacht. Denn auch in Zeiten der Verunsicherung ist Mitarbeiterbindung kein Selbstläufer. Wollen sie sie nicht an die Konkurrenz verlieren, müssen sich Arbeitgeber um ihre guten Mitarbeiter kümmern – jetzt womöglich noch intensiver als im Normalfall.

Denn gerade, wenn es hart auf hart kommt, sind Unternehmen auf ihre Leistungsträger angewiesen. Viele von ihnen haben im Corona-Jahr 2020 Unglaubliches geleistet. Wenig überraschend also, dass gerade diesen Mitarbeitern ihr Wert durch die Krise sehr deutlich bewusst geworden ist. Diesen entsprechend finanziell zu honorieren, ist angesichts der aktuellen Lage nicht immer möglich.

Die gute Nachricht: Arbeitnehmer erwarten heute sehr viel mehr von einem Job als finanzielle Sicherheit. Eine sinnstiftende, erfüllende Tätigkeit ist für viele Fachkräfte die Idealvorstellung – ein Arbeitsumfeld, in dem sie Anerkennung und Wertschätzung erfahren, für die meisten eine unabdingbare Grundvoraussetzung.

Wer dies als Arbeitgeber nicht bieten kann, treibt seine besten Kräfte geradezu der Konkurrenz in die Arme – spätestens dann, wenn die Zeiten wieder besser sind. So sieht es auch Sven Hennige, Senior Managing Director Central Europe & France bei Robert Half. Er ist seit über 20 Jahren in der Personalvermittlung tätig und kennt die aktuellen Trends.

Warum sind Wertschätzung und Anerkennung der Mitarbeiter so wichtig?

Sven Hennige: Kaum ein Unternehmen kann es sich angesichts der aktuellen Situation leisten, gute Leute zu verlieren. Doch genau das passiert, wenn es die Herausforderung Mitarbeiter-Wertschätzung nicht weit oben auf die Agenda setzt. Und sie mit geeigneten Maßnahmen angeht. Kann es Leistungsträger nicht halten, verliert es übrigens nicht nur erfahrenes Personal. Oft wandern damit auch viel Know-how und wertvolle Kontakte zur Konkurrenz ab.

Und nicht zu vergessen: Der Verlust führt zu Mehrarbeit für andere Mitarbeiter in der betroffenen Abteilung. Und das wirkt sich negativ auf die Produktivität und die Motivation aus. Abläufe stocken, Aufträge werden langsamer abgearbeitet, der Stresslevel steigt, die Stimmung sinkt. Außerdem kann der Weggang unter den verbliebenen Kollegen für eine regelrechte Aufbruchstimmung sorgen. Leider nicht im übertragenen, sondern im wortwörtlichen Sinne. Arbeitgeber sollten nicht dem Irrglauben aufsitzen, dass in der aktuell recht unsicheren Lage niemand einen sicheren Arbeitsplatz aufgibt. Dem ist nicht so. Und selbst wenn es für den Moment noch gilt: Irgendwann ist auch diese Krise vorüber.

Es gilt also jetzt zu handeln, um für die Zeit nach der Corona-Krise gerüstet zu sein?

Sven Hennige: Nicht nur, denn ein Abgang schmerzt natürlich sofort. Aber tatsächlich, so abgedroschen es klingt: Die Krise bietet enorme Chancen in Sachen Mitarbeiterbindung. Denn gerade in kritischen Phasen trennt sich die Spreu vom Weizen und Unternehmen zeigen ihr wahres Gesicht. Oftmals wird der Ton rauer, die langen Monate im Home-Office drücken aufs Gemüt. Bei vielen kommen private Sorgen und Ängste angesichts des Infektionsgeschehens hinzu.

Wer hier geschickt agiert und seinen Mitarbeitern signalisiert, dass er in dieser schwierigen Zeit für sie da ist und sich um ihr Wohlergehen kümmert, kann eine starke Bindung schaffen. Und gleichzeitig seine Attraktivität als Arbeitgeber stärken und so Mitarbeiter gewinnen, die genau diese Aufmerksamkeit in ihrem aktuellen Job vermissen. Das sind offenbar einige: In einer Gallup-Blitzumfrage zur Mitarbeiterbindung in Zeiten von Corona aus dem vergangenen Frühjahr sagte fast jeder dritte Arbeitnehmer, der Arbeitgeber interessiere sich nicht für sein Wohlergehen. Wohlgemerkt: Im Frühjahr 2020 – als noch keine langen Monate im Home-Office hinter uns lagen.

Das macht auch deutlich, dass die Formen von Wertschätzung sich geändert haben. Fürsorge, auch für die seelische Gesundheit, ist jetzt eine wichtige Säule. Auch das Schaffen einer sicheren Arbeitsumgebung und ein stabiles, transparentes Krisenmanagement wird von Arbeitnehmern als wertschätzend empfunden. Es müssen also nicht zwingend kostenintensive Geschenke her, um Wertschätzung auszudrücken. Manchmal reichen einfache Maßnahmen.

Worauf kommt es sonst noch an, wenn man Mitarbeiter binden und motivieren will? Wie gelingt Wertschätzung ganz allgemein?

Sven Hennige: Moderne Führungskräfte dürfen sich nicht als Einzelkämpfer verstehen, denn ohne ihr Team sind sie wenig effektiv. Halten sie sich hingegen für unersetzlich, dann sollten sie schleunigst umdenken und ihre Untergebenen stärker in die Verantwortung nehmen. Anders ausgedrückt: Sie müssen lernen, zu delegieren. 

Das ist ein entscheidender Beitrag zu mehr Wertschätzung ihrer Mitarbeiter. Er zeigt nämlich, dass im Unternehmen alle an einem Strang ziehen. Und die zweite Botschaft daraus ist natürlich: Gemeinsam sind wir stärker. Es geht also um das Zusammengehörigkeitsgefühl. Das kann ungeahnte Kräfte freisetzen, motivieren und für Erfolgserlebnisse sorgen. Denn auf diese Weise vermitteln Führungskräfte, dass sie ihrer Mannschaft vertrauen und sie einbeziehen. Und sie müssen in der Lage sein, dieses Zusammengehörigkeitsgefühl auch herzustellen, wenn das Team vollständig oder in Teilen remote arbeitet.

Das Unternehmen als eine große Familie?

Sven Hennige: So weit würde ich nicht gehen. Trotzdem zielt Mitarbeiterbindung in eine ähnliche Richtung. Es kommt dabei aber nicht nur auf das große Ganze an. Auch jeder Einzelne muss sich gut aufgehoben fühlen. Das gilt vor allem für besonders wertvolle Teammitglieder. Dafür ist natürlich Transparenz erforderlich, Offenheit – und manchmal auch ungewöhnliches Verhalten.

Was bedeutet “ungewöhnliches Verhalten”?

Sven Hennige: Damit meine ich zum Beispiel das Ansprechen von Dingen, die eigentlich als absolute Tabuthemen gelten. Sprechen Sie als Entscheider bei passender Gelegenheit ruhig mal über die Konkurrenz. Was würde die eigenen Mitarbeiter bei einem Wechsel zu einem Wettbewerber erwarten? Mehr Gehalt, mehr Verantwortung, mehr Druck, weniger Work-Life-Balance? Sicher, solche Gedankenspiele können auch ein Risiko sein und Abwanderungsgelüste wecken. Zumindest dann, wenn es im eigenen Unternehmen um die Wertschätzung nicht zum Besten steht.

Andererseits wäre es naiv, die Augen davor zu verschließen. Nach dem Motto “Angriff ist die beste Verteidigung” sollten Manager sich trauen, mit talentierten Kräften proaktiv über dieses Thema zu sprechen. Das dient nicht nur der Selbstreflexion, sondern kann zu spannendem Input führen, beispielsweise darüber, wie gute Mitarbeiter das eigene und andere Unternehmen wahrnehmen. Aus solchen Erkenntnissen lassen sich wertvolle Rückschlüsse ziehen. Und: Mitarbeiter fühlen sich auf Augenhöhe wahrgenommen. 

Ein weiterer Nebeneffekt: Bei solchen Gesprächen auf vertrauensvoller Basis können Verantwortliche unzufriedene Mitarbeiter erkennen. Diese befinden sich oft in einer Vorstufe zur Kündigung. Wer solche Kandidaten identifiziert, sollte das als Warnsignal nehmen und bald möglichst ein gut vorbereitetes Bleibegespräch mit ihnen führen.

Welche Instrumente und Maßnahmen empfehlen Sie, um Leistungsträger zu halten?

Sven Hennige: Grundsätzlich lassen sich Mitarbeiterbindungsmaßnahmen in drei große Bereiche unterteilen:

  1. Entwicklung und Förderung
  2. Work-Life-Balance
  3. allgemeines Arbeitsklima 

Ob Unternehmen alle gleichrangig behandeln oder Schwerpunkte setzen, ist auch von den Bedürfnissen ihrer Belegschaft abhängig. Dabei hilft beispielsweise eine Umfrage.

Gleichzeitig sollten Entscheider den Wettbewerb im Auge behalten. Was tut die Konkurrenz für die Wertschätzung der Mitarbeiter? Und wie erfolgreich ist sie damit? Lässt sich davon etwas übernehmen?

Wichtig ist in jedem Fall eine Strategie. Sie muss ein Ziel verfolgen und zu glaubwürdigen Ergebnisse führen: Das gemütliche Wanderwochenende in den Harz passt nicht zur Start-up-Crew. Vorgesetzte sollten sich deshalb gut überlegen, wie sie Wertschätzung und Anerkennung vermitteln. Und ab welchem Zeitpunkt. Meine Meinung ist: Je früher, desto besser!

Wer vielversprechende Kräfte halten will, kann nämlich bereits beim Auswahlverfahren neue Mitarbeiter langfristig binden. Hier sind die Recruiter gefragt, geeignete Kandidaten zu identifizieren und ihnen maßgeschneiderte Angebote zu machen. Stichworte: flexible Arbeitszeiten, Urlaubsregelung, Home Office, Sabbatical, Dienstwagen, Boni, Weiterbildung, Aufstiegsmöglichkeiten und so weiter.

Je individueller die Wertschätzung und Anerkennung neuer Mitarbeiter ausfällt, desto stärker kann das gemeinsame Band werden. Diese Maßnahmen lassen sich natürlich auch nachträglich mit Kräften vereinbaren, die schon länger im Betrieb sind.

Wertschätzung für alle oder nur für ausgewählte Mitarbeiter?

Sven Hennige: Sowohl als auch. Unternehmen können ein Gießkannenprinzip für die gesamte Belegschaft, ein selektives Vorgehen für einzelne Kräfte wählen oder beides kombinieren. Ich muss hier allerdings zugeben: Ein Patentrezept habe ich nicht. Schließlich ist jedes Unternehmen ein eigenes Universum, das nach eigenen Gesetzen funktioniert.

Ich fange mal mit dem Gießkannenprinzip an. Hier bieten sich Teambuilding und ähnliche gemeinschaftliche Aktionen an, zum Beispiel Feiern mit der ganzen Mannschaft. Das gestaltet sich in Zeiten von Corona natürlich nicht ganz so einfach wie gewohnt, ist aber umso wichtiger. Denn wenn das Team im Home-Office sitzt, kommt der zwischenmenschliche Austausch oft zu kurz. Inzwischen gibt es dazu auch virtuell zahlreiche Möglichkeiten.

Ebenfalls sinnvoll sind Vergünstigungen für die Belegschaft. Zu solchen Boni zählen Rabatte für Einkäufe im eigenen Unternehmen oder bei Geschäftspartnern, Yoga- oder Gesundheitsangebote (auch online) , Zuschuss zur Home-Office-Ausstattung und natürlich flexible Arbeitszeitmodelle. Das Ziel: Wir-Gefühl stärken.

Die selektive Mitarbeiterbindung lässt sich mit fein abgestimmten Aktionen für einzelne Kräfte fördern. Hier bieten sich individuelle Weiterbildungs- und Förderprogramme an. Auch die Aussicht auf Aufstiegsmöglichkeiten oder leistungsabhängige Prämien gehört hierzu. Das Ziel: Ich-Motivation stärken. Natürlich ist noch viel mehr möglich. Aber das hängt, wie gesagt, vom Unternehmen ab. 

Ansonsten gilt für Manager grundsätzlich: Mitarbeiterbindung durch Feedback ist ganz wichtig. Das kann zum Beispiel konstruktive Kritik in einem regelmäßigen Einzelgespräch sein. Aber auch spontanes Lob ist bei passender Gelegenheit sinnvoll. Schulterklopfen – nicht im sprichwörtlichen Sinn, sondern sofern es Abstandsregelungen zulassen, ganz real – oder positiver Zuspruch während eines projektbezogenen Meetings kann tatsächlich einen Effekt haben. Beides geht ohne großes Brimborium, kostet nichts und motiviert trotzdem – sofern es glaubwürdig wirkt. Damit können Sie viel bewirken, solange Sie fair und angemessen im Ton sind.

Auf die Wertschätzung kommt es Mitarbeitern an. Ein Danke und ein Lob für ein erfolgreiches Projekt sind einfach umzusetzen und verfehlen ihre Wirkung nicht. Doch wer dauerhaft unterdurchschnittliche Gehälter bietet, wird Mitarbeiter langfristig nicht halten können. Daher lohnt sich ein regelmäßiger Check aktueller Gehaltsniveaus, zum Beispiel mit der Gehaltsübersicht von Robert Half.

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